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Picker, Die ablösende Betriebsvereinbarung

zum Verhältnis von privatautonomer und betriebsverfassungsrechtlicher Regelungsmacht, in: Bieder/Hartmann (Hrsg.), Individuelle Freiheit und kollektive Interessenwahrnehmung im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, Mohr Siebeck Verlag Tübingen 2012, S. 103-143.

30.05.2012

Die Entscheidung des Großen Senats vom 16.9.1986 zu der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen vertraglich begründete Ansprüche der Arbeitnehmer, die auf einer Einheitsregelung, Gesamtzusage oder betrieblichen Übung beruhen, durch eine nachfolgende Betriebsvereinbarung aufgehoben oder beschränkt werden können, liegt mittlerweile ein Vierteljahrhundert zurück. Die Diskussion um die Zulässigkeit arbeitsvertragliche Einheitsregelungen ablösender, insbesondere diese verschlechternder Betriebsvereinbarungen ist damit jedoch nicht verstummt. Im Gegenteil: Ganz überwiegend hält man die Entscheidung des Großen Senats weder für rechtsdogmatisch überzeugend noch rechtspraktisch ausreichend. Vielfach möchte man den Betriebsparteien zumindest die Befugnis einräumen, arbeitsvertragliche Einheitsregelungen über sogenannte Sozialleistungen durch eine nachfolgende Betriebsvereinbarung verschlechtern zu können.

Der Aufsatz untersucht, ob und inwieweit die Figur einer „ablösenden Betriebsvereinbarung“ mit einer der Privatautonomie verpflichteten Arbeitsrechtsordnung vereinbar ist. Kern der Ausführungen ist damit das grundlegende Problem des Verhältnisses von Privatautonomie und betriebsverfassungsrechtlicher Regelungsmacht.

Zusammenfassung in Thesen:

  1. Den Betriebsparteien fehlt eine umfassende Regelungskompetenz: Sie haben keine Befugnis, die materiellen Arbeitsbedingungen, insbesondere die Höhe des Arbeitsentgelts zu regeln. Grund hierfür ist ihre fehlende privatautonome Legitimation.
  2. Geht man gleichwohl von einer umfassenden Regelungskompetenz der Betriebsparteien aus, so gilt im Verhältnis einer arbeitsvertraglichen Einheitsregelung zu einer nachfolgenden Betriebsvereinbarung jedenfalls das Günstigkeitsprinzip. Eine „Relativierung“ oder ein Ausschluss des Günstigkeitsprinzips für den Bereich kollektiv gewährter „Sozialleistungen“ ist nicht gerechtfertigt.
  3. Die Arbeitsvertragsparteien können vertragliche Zusatzleistungen auf Grund ihrer Vertragsfreiheit zwar „betriebsvereinbarungsoffen“ ausgestalten. Ein konkludenter Vorbehalt der Betriebsvereinbarungsoffenheit lässt sich jedoch nur bei Vorliegen besonderer Anhaltspunkte begründen.
  4. Eine Verschlechterungskompetenz der Betriebsparteien kann positivrechtlich weder § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG, § 87 Abs. 1 BetrVG, § 88 BetrVG noch einer anderen Vorschrift des BetrVG entnommen werden. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG ermächtigt die Betriebsparteien insbesondere nicht, die Höhe vertraglicher Entgeltansprüche neu zu regeln.
  5. Die Annahme einer Verschlechterungskompetenz widerspräche zudem dem Schutzzweck der Betriebsverfassung: Das Mitbestimmungsrecht dient der Beschränkung der einseitigen Regelungsmacht des Arbeitgebers. Folglich ist die einseitige Regelungsmacht des Arbeitgebers Voraussetzung für die Mitbestimmung des Betriebsrats.
  6. Zwischen dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats und der Abänderbarkeit der individualvertraglichen Rechtsposition ist danach strikt zu trennen. Ist der Arbeitgeber gezwungen, einheitlich vertraglich zugesagte Sonderleistungen veränderten wirtschaftlichen oder rechtlichen Umständen anzupassen oder diese zu streichen, so kann er dies nur durch ein einseitiges Gestaltungsrecht erreichen, welches dem Rechtscharakter und Inhalt der privatautonom begründeten Rechtsposition entspricht.
  7. Für die Insuffizienz der anerkannten vertraglichen Ablösemechanismen bestehen zwei Gründe: Zum einen unterstellt man einem Arbeitgeber, der zusätzliche Sozialleistungen einheitlich gewährt, zu Unrecht einen unbedingten Verpflichtungswillen für die Zukunft. Zum anderen sind die Anforderungen an den Vertragsinhaltsschutz zu hoch. Denn bei freiwilligen, in aller Regel übertariflichen Zusatzleistungen steht anders als beim vertraglich ausgehandelten oder tarifvertraglich geschuldeten Kernentgelt nicht der Entgeltschutz, sondern die autonome Rechtfertigung der Mehrleistung im Vordergrund.
  8. Diesen Besonderheiten ist dadurch Rechnung zu tragen, dass man dem Arbeitgeber das Recht zugesteht, Sonderleistungen bei Vorliegen eines sachlichen Grundes, wozu regelmäßig die nachhaltige Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zählt, durch Widerruf für die Zukunft einheitlich zu kürzen oder zu beenden.

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