Giesen, Die Rechtsbeziehung der Arbeitskampfparteien als vorvertragliches Schuldverhältnis
NZA 2021, 319-323
10.03.2021
Im Jahr 1971 hat der Große Senat des BAG erstmals erklärt, die Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen richte sich unter anderem nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 2007 hat der 1. Senat des BAG diesen Grundsatz, der nie näher begründet worden ist, neu definiert. Er verwirft die bisherigen richterrechtlichen Arbeitskampfregeln und geht stattdessen von einer Freiheit zur Ergreifung jeglicher Kampfmaßnahmen aus, wobei lediglich deren Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit gegeben sein müssen. Weil die Richter der Gewerkschaft eine Einschätzungsprärogative für die Bewertung von Geeignetheit und Erforderlichkeit zugestehen, belassen sie es im Ergebnis bei einer inhaltlich diffusen Untersuchung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn.
Spätestens mit dieser Judikatur zeigt sich, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zur Beurteilung von Arbeitskampfmaßnahmen taugt. Beim Arbeitskampf handelt es sich um den Konflikt privater Grundrechtsträger, der auf die Herstellung einer privatrechtlichen Vertragsbeziehung gerichtet ist. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist stattdessen auf die Prüfung von Grundrechtseinschränkungen bei der Staatsaufgabenerfüllung ausgerichtet – was letztendlich erfordern müsste, dass Arbeitskampfmaßnahmen als Einsatz staatlich delegierter Hoheitsgewalt eingeordnet werden.
Das ist aber nicht der Fall. Den beteiligten Gewerkschaften und Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden ist durch eine seit 1955 entwickelte Judikatur des BAG die Möglichkeit eröffnet, die Suspendierung arbeitsvertraglicher Pflichten herbeizuführen. Damit ist ihnen die Einwirkung auf Rechtspositionen der jeweiligen Gegenseite oder ihrer Mitglieder gestattet, und zwar mit dem Zweck des Tarifvertragsschlusses. Daraus folgt eine in §§ 311 Abs. 2 Nr. 2 BGB definierte Vertragsanbahnungsbeziehung, welche alle Beteiligten nach § 241 Abs. 2 BGB zur Wahrung – auch zugunsten Dritter wirkender – Schutzpflichten anhält. Die mit der Schuldrechtsreform erfolgte Normierung der culpa in contrahendo als vorvertragliches Schuldverhältnis deckt sich mit den Eigenschaften einer schuldrechtlichen Sonderbeziehung der (angehenden) Tarifvertragsparteien, wie sie bereits seit den 1970er Jahren von Zöllner und Seiter definiert wurde. Dementsprechend realisiert sich in den genannten Normen des BGB die aufgrund der verfassungsrechtlichen Drittwirkungs- und Schutzpflichtenlehre gebotene Wahrung eines Untermaßverbotes bei der staatlichen Einschränkung von Freiheiten zum wechselseitigen Schädigen durch Arbeitskampfmaßnahmen. Ebenso konkretisiert sich hier das – auch vom rechtsetzenden Richter zu achtende – staatsadressierte Neutralitätsprinzip nach Art. 9 Abs. 3 GG.