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Giesen, Richterrechtlich begründeter Gewerkschaftszugang zum Betrieb

Festschrift für Hermann Reichold, 2025, S. 361 - 376

04.04.2025

Der Beitrag enthält eine Fallstudie zu den kollidierenden richterrechtlichen Gestaltungsansprüchen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG).

§ 2 Abs. 2 BetrVG eröffnet Gewerkschaften ein Recht auf Zugang zum Betrieb, das allerdings gesetzlich begrenzt ist. Das BAG hat mehrfach versucht, dieses Recht zu erweitern. In einem ersten Anlauf entschied es im Jahr 1978, ein über das einfache Gesetzesrecht hinausreichender gewerkschaftlicher Zugangsanspruch folge aus Art. 9 Abs. 3 GG (BAG 14.2.1978 – 1 AZR 280/77, AP Nr. 26 zu Art. 9 GG). Diese Entscheidung wurde dann aber vom BVerfG mit der Begründung aufgehoben, die Verfassung begründe ein solches Recht keineswegs (BVerfG 17.2.1981 – 2 BvR 384/78, BVerfGE 57, 220 = AP Nr. 9 zu Art. 140 GG). Das BAG fügte sich in der Folge zwar den Vorgaben des BVerfG. Jedoch vertrat es gegen den Wortlaut des BVerfG-Beschlusses die Ansicht, dieser betreffe nur den Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts (BAG 19.1.1982 – 1 AZR 279/81, AP Nr. 10 zu Art. 140 GG).

Gut zwei Jahrzehnte später, im Jahr 2006, entschied das BAG erneut, es existierte zusätzlich zu § 2 Abs. 2 BetrVG ein gewerkschaftliches Zugangsrecht zum Betrieb. Jedoch begründete das BAG dies anders als im Jahr 1978. Nun erklärte es, bezüglich eines allgemeinen Zugangsrechts der Gewerkschaft zum Betrieb wäre von einer Gesetzeslücke auszugehen. Diese Lücke könnte das BAG füllen, indem es einen richterrechtlichen Zugangsanspruch auf der Ebene des einfachen Rechts schaffte. Die Annahme einer Gesetzeslücke gründeten die Richter auf die Behauptung, der parlamentarische Gesetzgeber hätte „bislang von der Verabschiedung eines ('Verbände´)Gesetzes, in dem die Rechte und Pflichten u.a. der Gewerkschaften näher geregelt wären, abgesehen“ (BAG 28.2.2006 - 1 AZR 460/04, NZA 2006, 798). Hier zeigte sich ein erheblicher Argumentationsmangel: In den Jahren vor der Entscheidung war zwar ein Verbändegesetz diskutiert worden. Jedoch hatte man niemals in Betracht gezogen, in diesem Gesetz solche Fragen wie die des gewerkschaftlichen Zugangs zum Betrieb (oder sonstige Gewerkschaftsrechte) zu regeln. Die Behauptung des BAG war also, wie der historische Befund zeigt, unzutreffend.

Letztendlich kann es dahinstehen, ob die unzutreffende Darstellung durch das BAG auf einem Versehen beruhte. Sie belegt in jedem Fall den unbedingten Willen des Gerichts zur richterrechtlichen Gestaltung. Durch die Behauptung einer Gesetzeslücke (anstelle einer verfassungswidrigen einfach-gesetzlichen Rechtslage) konnten die Richter eine Befassung des BVerfG vermeiden. Der Gestaltungskonflikt der beiden Gerichte um das gewerkschaftliche Zugangsrecht war somit nach vielen Jahren zugunsten des BAG entschieden.

Damit stellt sich die Frage, wie die heutige Diskussion um ein Recht der Gewerkschaft auf digitalen Zugang zum Betrieb zu bewerten ist. Hier ist zunächst festzuhalten, dass dieses Recht nicht in § 2 Abs. 2 BetrVG begründet ist. Es wird auch nicht möglich sein, ein solches Recht nach dem Muster der Entscheidung von 2006 richterrechtlich zu begründen. Denn es handelt sich spätestens seit Inkrafttreten von § 9 Abs. 3 S. 2 BPersVG nicht um eine Materie, zu der keine gesetzliche Regelung existiert. Gestaltungsbefugt ist hier also der parlamentarische Gesetzgeber.


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