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Berding, Urabstimmung vor Arbeitskämpfen im britischen Recht: Der „de minimis“-Grundsatz

EuZA 8 (2015), 65-82

02.02.2015

Die hier unter dem Begriff de minimis-Grundsatz zusammengefassten, von der Rechtsprechung entwickelten Ansätze zur Unbeachtlichkeit leichter Fehler über den Anwendungsbereich der sec. 232B TULR(C)A 1992 hinaus haben sich mittlerweile etabliert. Mit den in den Jahren 2009, 2010 und 2011 ergangenen Entscheidungen hat der Court of Appeal klargestellt, dass er die durch den Employment Relations Act 2004 zum Ausdruck gebrachte Absicht des Gesetzgebers, die Beschränkungen der sec. 232B TULR(C)A 1992 beizubehalten, nicht akzeptieren wird.
Argumentiert wurde regelmäßig mit dem Sinn und Zweck des Urabstimmungserfordernisses, demokratische und gerechte Entscheidungen über die Aufnahme des Arbeitskampfs zu gewährleisten. Mit der Erreichung dieses Zwecks ist es nach Ansicht des Gerichts nicht vereinbar, dass Fehler bei der Hinweiserteilung an den Arbeitgeber stets – und zwar unabhängig von ihren Auswirkungen auf dessen Vorbereitungshandlungen – beachtlich sein sollen und damit zur Unwirksamkeit der Urabstimmung und zur Rechtswidrigkeit des Arbeitskampfs führen.
Diese Verknüpfung von einschneidender Rechtsfolge bei zugleich allenfalls sehr geringer Betroffenheit von Mitgliederrechten im Bereich der Hinweiserteilung erscheint tatsächlich zweckwidrig. Das gilt umso mehr, als Fehler bei der Abstimmung selbst gemäß sec. 232B TULR(C)A 1992 unbeachtlich sein können. Gleichwohl bestätigte der britische Gesetzgeber mit dem Employment Relations Act 2004 die Beschränkung der Vorschrift auf solche Fehler, wie sich aus der Entwicklungsgeschichte ablesen lässt.
Dementsprechend sah der Court of Appeal von einer (direkten oder analogen) Anwendung der sec. 232B TULR(C)A 1992 auf Fehler bei der Hinweiserteilung ab und bediente sich stattdessen des Begriffs des vernünftigerweise Machbaren, der sich unter anderem in den Vorschriften über die Hinweispflichten findet. Am Ergebnis ändert dieser Kunstgriff freilich nichts. Derzeit ist daher von einer durch die Rechtsprechung geschaffenen Rechtslage auszugehen, die der vom Gesetzgeber beabsichtigten widerspricht. Es erscheint wünschenswert, dass Letzterer eine eindeutige Regelung und damit endgültig Rechtssicherheit schafft. Insbesondere da die Vorbereitung einer Urabstimmung durch die Gewerkschaft – die im Fall eines beachtlichen Fehlers vergebens ist – erheblichen Organisations- und finanziellen Aufwand erfordert, dürfte die Unbeachtlichkeit jedenfalls solcher Fehler bei der Hinweiserteilung sachgerecht sein, die auf die Vorbereitungen des Arbeitgebers keinen Einfluss haben können. Denn in einem solchen Fall ist der einzige mit den Hinweispflichten verfolgte Zweck hinreichend gewahrt. Eine Beachtlichkeit von Fehlern darüber hinaus diente lediglich dazu, den Arbeitgebern eine Möglichkeit zur Verhinderung von Kampfmaßnahmen zu verschaffen.
Eine gesetzliche Regelung in diese Richtung könnte auch vor dem Hintergrund der Vereinbarkeit der Urabstimmungsregelungen mit dem Streikrecht aus Art. 11 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) angezeigt sein[1]. Zwar hat der EGMR jüngst eine Beschwerde der britischen Gewerkschaft National Union of Rail, Maritime and Transport Workers gegen die Hinweispflichten abgewiesen, dies aber aus eher formalen Gründen und ohne Entscheidung in der Sache[2]. Nachdem sowohl der Sachverständigenausschuss der Internationalen Arbeitsorganisation als auch der Europäische Ausschuss für Soziale Rechte die entsprechenden britischen Regelungen kritisiert hatten[3] und der EGMR die Bedeutung der Spruchpraxis dieser Gremien für die Prüfung der Vereinbarkeit mit Art. 11 Abs. 1 EMRK grundsätzlich anerkannt hat[4], ist in der Zukunft bei entsprechender Gelegenheit mit einer neuerlichen Beschwerde zu rechnen. Eine Regelung zur Unbeachtlichkeit von leichten Fehlern bei der Hinweiserteilung würde den Gewerkschaften die Umsetzung der Hinweispflichten erleichtern und damit den Forderungen der beiden Gremien jedenfalls teilweise nachkommen.


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