Giesen, Ankündigungsfristen für Arbeitskampfmaßnahmen
ZAAR Schriftenreihe, Band 55, 35-54
16.06.2025
Der Beitrag betrifft die Frage, mit welchem zeitlichen Vorlauf eine Arbeitskampfmaßnahme, insbesondere ein Streik, angekündigt werden muss. Diese Frage wird noch nicht allzu lange diskutiert, was verständlich wird, wenn man sich die historische Entwicklung vor Augen hält.
Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts Arbeitskampfmaßnahmen für zulässig erklärt wurden, sah man sowohl in der Streikteilnahme als auch in der Aussperrung jeweils fristgerechte Beendigungen des Arbeitsverhältnisses. Somit dienten die diesbezüglichen Kündigungsfristen als Ankündigungsfristen, ohne als solche eingeordnet werden zu müssen. Nachdem sich das BAG im Jahr 1955 vom beschriebenen Kündigungserfordernis verabschiedet hatte, erklärte der Große Senat im Jahr 1971, vor Arbeitskampfmaßnahmen müssten zuerst die Tarifverhandlungen gescheitert sein. Das brachte zumindest ein generelles Ankündigungserfordernis mit sich, welches aber nach den wechselvollen Jahren der „Warnstreik-Judikatur“ (1976 bis 1988) vom Ersten Senat des BAG abgeschafft wurde. Wohl um dieses Defizit auszugleichen, erklärte der Senat in den Jahren 1995 und 1996 die Deklaration einzelner Arbeitskampfmaßnahmen für erforderlich, jedoch abermals ohne Stellungnahme zu den dabei erforderlichen Fristen. Dies alles wurde im Jahr 2009 insofern wieder verworfen, als der Erste Senat darlegte, es reichte, wenn Arbeitskampfmaßnahmen als solche „erkennbar“ seien. Damit war freilich noch nicht ganz klar, ob tatsächlich Ankündigungsfristen für Streiks verzichtbar sind, zumal die Entscheidung den atypischen Fall des „Flashmob“ betraf.
Diese erratische BAG-Judikatur schuf nur in zweierlei Hinsichten Gewissheit, nämlich erstens darin, dass sich der Erste Senat des BAG nicht für die eigene Rechtsprechung der Vergangenheit interessiert, und zweitens darin, dass er trotz offenem Widerspruch zur Rechtsprechung des Großen Senats nicht nach § 45 Abs. 2 ArbGG vorgeht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass die Instanzgerichte ihre Erwägungen zu Ankündigungsfristen ohne Berücksichtigung der (jeweils aktuellen) BAG-Judikatur und auch ohne BAG-Zitate anstellen, und dass ihre Entscheidungen uneinheitlich ausfallen.
Da also die Rechtsprechung unergiebig ist, müssen die Funktionen von Ankündigungsfristen eigenständig aus den zivilrechtlichen und verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen des Arbeitskampfs entwickelt werden. Hier erweist es sich, dass Ankündigungsfristen zwei Schutzfunktionen erfüllen, und zwar mit Blick auf das Verfahren und mit Blick auf die Beteiligten.
Der Verfahrensschutz durch Ankündigungsfristen liegt darin, dass dem Gegner die Möglichkeit gegeben wird, sich dem Druck zu beugen oder ihm mit eigenen Maßnahmen zu begegnen. Und er liegt auch darin, dass das Verhandlungsgleichgewicht gewahrt wird.
Der Beteiligtenschutz durch Ankündigungsfristen besteht darin, dass besondere Schäden vermieden werden, die dem Arbeitskampfgegner und Dritten aus dem kurzen Vorlauf der Ankündigung erwachsen können.
Beide Aspekte, Verfahrensschutz und Beteiligtenschutz, zeigen sich insbesondere bei der Regelung von Notdienst- und Erhaltungsarbeiten. Hier bedarf es Ankündigungsfristen, um die Regelung auszuhandeln und um Beteiligte sowie Dritte zu schützen. Umgekehrt kann eine Ankündigungsfrist kürzer ausfallen, wenn aufgrund einer breit angelegten Notdienstvereinbarung die Härte der jeweiligen Kampfmaßnahme abgemildert ist.